15. Oktober: Zum Todestag von Stepan Bandera

Vor 63 Jahren, am 15. Oktober 1959, starb Stepan Bandera. Der umstrittene ukrainische Nationalheld, in Deutschland besonders bekannt geworden durch die ihm erwiesene Verehrung des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, wurde in München von einem sowjetukrainischen KGB-Agenten ermordet. Dieser sprühte ihm mit einer Giftpistole Zyankali ins Gesicht. Seit dem Fall Bandera hätten sowjetische und russische Agenten keine Lizenz mehr zum Töten, beteuerte höchst unglaubhaft im Jahr 2006 der russische Auslandsgeheimdienst.

Bandera hatte sich während des 2. Weltkriegs im Kampf um die ukrainische Unabhängigkeit von der Sowjetunion zeitweise mit den Nazis verbündet. Die von ihm geführte Kampfgruppe der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) war nachweislich am Holocaust beteiligt. Reue haben er und seine Mitstreiter nie gezeigt. Der Bolschewismus war das dominierende Feindbild; die Verschwörungstheorie von Bolschewismus und Judentum, ein zentrales Narrativ der deutschen Wehrmacht an der Ostfront, war auch in ihren Reihen gegenwärtig. Die Sowjets hatten Bandera in Abwesenheit zum Tode verurteilt, nachdem er gerade noch rechtzeitig in München sein Nachkriegs-Exil bezogen hatte.

In München engagierte sich Bandera in einer Exil-Organisation namens Anti-Bolshevist Bloc of Nations / Antibolschewistischer Block der Nationen (ABN), die an eine mit Nazi-Beteiligung gegründete Vorläufer-Organisation anknüpfte und von seinem früheren Mitarbeiter Jaroslav Stezko geleitet wurde. Diese anti-kommunistisch und anti-russisch ausgerichtete Organisation hatte sich die Zerschlagung der Sowjetunion und Aufteilung in ethnisch und kulturell homogene Nationalstaaten zum Ziel gesetzt. Zu ihrem Gedankengut gehörte, dass es bei der Konfrontation mit Russland und der Sowjetunion um etwas Genetisches ginge; die Russen seien durch asiatische Einkreuzungen von Natur aus grausam. Die Organisation wurde zeitweise von westlichen Geheimdiensten gefördert. Mit der geäußerten Bereitschaft, für ihre ultra-nationalistischen Ziele auch einen dritten Weltkrieg, inklusive Einsatz von Atomwaffen, riskieren zu wollen, trat sie jedoch so radikal auf, dass Proteste zur Beendigung der Unterstützung z.B. durch den englischen M16 führten.

Im Jahr 2006 etablierte der damalige ukrainische Präsident Juschtschenko, der zwei Jahre zuvor einen mysteriösen Giftanschlag überlebt hatte, das Ukrainische Institut für Nationales Gedenken. Dieses propagierte fortan Helden des nationalen Befreiungskampfes, die sich gegen Russland und die Sowjetunion erhoben hatten. Insbesondere Stepan Bandera wurde in den folgenden Jahren von staatlicher Seite zum Nationalhelden aufgebaut. Diese Entwicklung und damit verbundene Gesetze und Verordnungen, wie das sehr rigide Gesetz gegen die russische Sprache, wurden in ukrainisch-sprachigen und überwiegend russisch-sprachigen Regionen des Landes z.T. unterschiedlich aufgenommen.

Angesichts der jetzt erlebten Gewalt und Grausamkeit aus Russland liegt es nahe, ein Zurückgreifen auf Denkmuster und Netzwerke der Bandera- und ABN-Tradition wenig zu beachten oder sogar für situationsgerecht zu halten. Es wäre aber zu kurz gesprungen, Bezüge dieser Tradition zu Nazi-Gedankengut und -Netzwerken nur noch als russische Desinformation zu sehen, oder die Bereitschaft des einstigen ABN außer Acht zu lassen, Risiken einer militärischen und atomaren Eskalation schneidig in Kauf zu nehmen. In Andrij Melnyks Tiraden sehe ich nicht nur das undiplomatische Agieren oder eines Botschafters oder „übereifrige Rhetorik“ (Sarah Bosetti), sondern die Gefahr, dass diese Traditionslinie in der ukrainischen Politik wieder offener zutage tritt und strategische Entscheidungen entsprechend beeinflusst.

Es ist für die menschliche Vorstellungskraft schwer zu verarbeiten, dass der Gegenpol des Bösen durchaus auch etwas anderes sein kann als die Inkarnation des Guten und Weisen. Aber die Geschichte sollte uns lehren, dass die Wirklichkeit komplexer ist. Wir brauchen beides, Entschlossenheit in der Abwehr der russischen Invasion und Besonnenheit gegenüber einer Dynamik, die schnell entgleiten kann.

 

Quellen/ Links

https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/267769/analyse-regelung-der-vergangenheit-per-gesetz-einordnung-der-ukrainischen-erinnerungsgesetze/

https://de.wikipedia.org/wiki/Jaroslaw_Stezko
https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdischer_Bolschewismus

https://www.deutschlandfunkkultur.de/bandera-kult-ukraine-100.html

www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/warum-melnyks-aussagen-ueber-bandera-ihn-als-holocaustleugner-und-antisemit-outen-li.243068

https://www.merkur.de/politik/spione-kaelte-kommen-301773.html

https://www.spiegel.de/politik/tod-den-henkern-a-0565c77a-0002-0001-0000-000025776824

https://www.dw.com/de/historische-grundlage-f%C3%BCr-eine-k%C3%BCnftige-russische-demokratie/a-2135788

https://www.blick.ch/ausland/mit-dem-regenschirm-oder-tee-so-vergiften-russen-ihre-gegner-id16054619.html

https://www.sueddeutsche.de/meinung/zweiter-weltkrieg-nationalismus-ukraine-1.5590948?reduced=true

https://www.deutschlandfunkkultur.de/bandera-kult-ukraine-100.html

https://humanrights-online.org/de/die-historische-entwicklung-von-zwei-gegensaetzlichen-erzaehlstraengen-in-der-ukraine-am-beispiel-von-galizien-und-donbass/