„Schwerter zu Pflugscharen“: Ende eines Traums?

 

„Schwerter zu Pflugscharen“, dieses Bibelzitat kennen wir als ein geflügeltes Wort der Friedensbewegung. Eine symbolische Aktion in Wittenberg 1983 trug viel dazu bei, diesen Aufruf im kollektiven Bewusstsein der Deutschen in Ost und West nachhaltig zu verankern. Nach dem Ende des Kalten Krieges sahen wir Chancen für eine „Friedensdividende“: Senkung der Rüstungsausgaben, gesellschaftlicher Wohlstandsgewinn durch anderweitige Verwendung dieser Gelder. Seit dem völkerrechtsverletzenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist, mit den Worten von Bundeskanzler Scholz, eine Zeitenwende eingetreten. Was bedeutet das für das Verhältnis von „Schwertern“ zu „Pflugscharen“? Mit Überlegungen dazu beschäftigt sich der heutige Blogbeitrag.

 

  1. Monika: Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine durchdringt alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens und der Politik. Wie wirkt sich dies im Landtag und in deinem Wahlkreis aus?

Heide: Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat bereits am 25. Februar im Rahmen einer Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Dr. Reiner Haseloff seine Solidarität mit der Ukraine erklärt und das Agieren Russlands verurteilt. In den Debatten zur Landespolitik spielen die Aufnahme von Geflüchteten und daraus erwachsende Notwendigkeiten für die Kommunen und das Land eine wichtige Rolle. So ist z.B. der Unterricht für die geflüchteten Kinder – ihre Integration in bestehende Schulstrukturen einerseits, eigene Programme in ukrainischer Sprache andererseits – ein wiederkehrendes Thema. Es geht auch schon um ehrenamtliches und berufliches Engagement bei geflüchteten Ukrainerinnen, die ihre Talente vor Ort einbringen möchten. In Wittenberg engagiere ich mich privat in einem von mir mitgegründeten Verein, Ukraine Soforthilfe Wittenberg e.V. Dadurch bekomme ich gute Einblicke in die vielfältigen Herausforderungen, aber auch in die große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung und in die eindrucksvolle Tatkraft geflüchteter Menschen.

 

  1. Monika: Gibt es neben der Aufnahme der Geflüchteten weitere Themen, die den Landtag aufgrund des Ukraine-Kriegs besonders beschäftigen?   

Heide: Besondere Aufmerksamkeit erfordern steigende Energie- und Rohstoffpreise sowie gestörte Lieferketten. Einen starken Niederschlag findet der Ukraine-Krieg in den Landtags-Debatten zu Energieversorgung und Landwirtschaft. Das betrifft z.B. die Nutzung von Landflächen für mehr Energiegewinnung durch Windkraft oder für die Produktion von mehr Nahrungsmitteln. Als Argument zugunsten mehr landwirtschaftlicher (und gegen mehr energiewirtschaftliche) Nutzung wurde schon mehrfach die dramatische Situation in afrikanischen Ländern genannt, die unter den Export-Blockaden für ukrainisches Getreide sehr zu leiden haben.

Es ist gut und wichtig, dass wir uns auch auf Landesebene mit der Versorgung der vom Hunger bedrohten Menschen in Afrika beschäftigen. Wenn es allerdings um mehr Nahrungsmittelanbau für die künftige Versorgung geht, dann sollte dieser in erster Linie in den Ländern selbst unterstützt werden. „Abladen“ von Agrar-Überschüssen in armen Ländern hat deren eigene Landwirtschaft geschädigt; davon sollten wir mittelfristig wegkommen. Wir selbst wiederum, das ist ja mehr als deutlich geworden, müssen unsere Abhängigkeit von globalen Lieferketten verringern, und das bedeutet auch:  die Energiewende beschleunigen – auch mit Windkraft in Sachsen-Anhalt. Mehr denn je wird deutlich, dass wir lokale und globale Aspekte systematisch im Zusammenhang betrachten müssen.

 

  1. Monika: Wenn du von Wittenberg gesprochen hast, dann hast du des Öfteren auch die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ von 1983 erwähnt. Du hast dich immer wieder dafür ausgesprochen, diesem Motto in der deutschen und internationalen Politik großes Gewicht zu geben. Wie siehst du das jetzt – nach der „Zeitenwende“, wie Bundeskanzler Scholz es ausgedrückt hat?

Heide: Putins Krieg führt uns drastisch vor Augen, dass wir verteidigungsbereit sein müssen – vor unserer eigenen Haustür, in Europa.  Ich kann pragmatisch nachvollziehen, was die Bundesregierung zu der im Bundestag bejubelten Ankündigung des Kanzlers veranlasste, ein Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Mrd. Euro und künftige Übererfüllung des NATO-Ziels von 2 % des Bruttosozialprodukts auf den Weg zu bringen. Jubel erscheint mir allerdings fehl am Platz. Was Putin zur Ausübung furchtbarer Gewalt befähigt, ist ja keineswegs eine überlegene Rüstungstechnologie. Es ist vielmehr die Skrupellosigkeit, mit der Verluste an Menschenleben in Kauf genommen werden, um machtpolitische Ziele durchzusetzen; Verluste auch bei den eigenen Kämpfern und bei der eigenen Bevölkerung.

Der deutsche Verteidigungsetat ist mit gut 50 Milliarden Euro im Jahr auch jetzt schon einer der höchsten der Welt. Die Intransparenz und Ineffizienz des damit verbundenen Beschaffungswesens sind nicht mangelnden Investitionen geschuldet. Die kombinierte Investitions- und Schlagkraft der NATO-Länder übersteigt die russische um ein Vielfaches. Anhäufung von „Overkill“-Kapazitäten schafft keine zusätzliche Sicherheit. Zudem ist menschliche Sicherheit nicht nur eine Frage militärischer Investitionen. Beispielsweise ist das Krankenhauswesen in Deutschland dringend reformbedürftig, und es gibt bedeutende Investitionsstaus, die nicht allein durch Konzentration von Krankenhäusern und kreative Reformen aufgelöst werden können. Der Katastrophenschutz hat sich als unzureichend erwiesen. Außenpolitisch hätten Einsparungen in der Entwicklungszusammenarbeit negative Auswirkungen auf Ernährungssicherheit, Perspektiven für Jugendliche, Zugang von Frauen zu Bildung und Familienplanung und insgesamt Sicherheit und Stabilität.

Um im Bild zu bleiben: Schwerter zu Pflugscharen schmieden, das ist ein Prozess. Er geht nur voran, wenn es auf beiden Seiten ein gewisses Maß an Kooperationsbereitschaft gibt. Wir brauchen immer noch Schwerter. Aber wir sollten nicht dem Impuls folgen, den Prozess nun umzukehren und Pflugscharen zu Schwertern schmieden.

 

  1. Monika: Was sagst du zu der anstehenden Änderung im Grundgesetz, mit der die Aufnahme des Kredits (Sondervermögen) für die Ausstattung der Bundeswehr ermöglicht wird?

Heide: Ich respektiere die Gründe und das Zustandekommen dieser Entscheidung. Dennoch bin ich in großer Sorge, dass der „militärisch-industrielle Komplex“, vor dessen überwältigendem Einfluss schon der US-Präsident Eisenhower künftige Generationen gewarnt hatte, künftig noch viel stärker als bisher Alltag, Politik und Gesellschaft dominiert.

Die Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung werden schnell beiseitegedrängt. Beim Verkauf von möglichst viel Waffen sind Anreize eher gegeben als bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien ohne nennenswerte, produktbezogene Gewinnspannen. Das wirkt sich wiederum darauf aus, wieviel Geld und Aufmerksamkeit für Lobbyarbeit zur Verfügung steht. Zudem wirken Produkte der Schwerindustrie und der Waffentechnik rein intuitiv, nun ja, schwerer. Aber ein waffentechnologisches Wunschkonzert wird nicht die Patentlösung sein. Strategien zu einer möglichst gewaltarmen Prävention und Bekämpfung von Gewalt werden in der öffentlichen Debatte gern und wohlfeil als lächerlich, zögerlich, moralisch verwerflich oder alles zusammen etikettiert. Sie sind jedoch ein wesentlicher Teil des Werkzeugkastens. Wir brauchen sie gegen das Inkaufnehmen des Verlustes von immer mehr Menschenleben, gegen Ausweitung des Krieges und Perpetuierung von Gewaltspiralen.

 

  1. Monika: Lehrt uns nicht die Geschichte des Nazi-Terrors, dass Tyrannen nur die Sprache der Gewalt verstehen? Müssen nicht gerade wir Deutschen daraus lernen?

Heide: Militärhistorische Forschung und historische Friedensforschung sind wichtig, damit Schlussfolgerungen aus historischen Abläufen keine Kurzschlüsse sind. Auch wenn Tyrannen nur die Sprache der Gewalt verstehen und mit Gewalt und Manipulation ihr eigenes Volk unter Kontrolle halten, so ist eine Person doch nicht die Verkörperung des gesamten Volkes. Chancen werden verschenkt, wenn man das Potenzial des Widerstands unterschätzt und nicht eine Kommunikation mit der Bevölkerung sucht.

Naive Friedensliebe gilt immer noch als das Motiv für anfängliches Entgegenkommen der späteren westlichen Alliierten gegenüber Adolf Hitler. Aber so einfach ist es nicht. Der angesehene britische Militärhistoriker Ian Kershaw hat in jüngerer Zeit herausgearbeitet, dass Teile der britischen Aristokratie Hitler während seines Aufstiegs und in den ersten Jahren nach seiner Machtergreifung als ein „Bollwerk gegen den Bolschewismus“ angesehen haben. Putin wiederum konnte bei seinem überaus brutalen Vorgehen in Tschetschenien Verständnis erwarten, weil er es in dem Kontext des weltweiten „Kampfes gegen den Terror“ stellte – damit wurden Weichen gestellt. Gerade die Kriegslogik führt immer wieder zu einem entgegenkommenden Umgang mit Diktatoren und Schlächtern, die nützlich scheinen für die Bekämpfung anderer Feinde, dann aber selbst zur noch größeren Bedrohung werden.

Im Vorfeld, bei der Prävention von Krieg und Enthemmung spielt bekanntlich eine Reihe von Faktoren eine Rolle. Nicht zu unterschätzen ist die Macht von Werten und Normen. Zu dem Gedankengut, das Putin in den letzten Jahren besonders beeinflusst hat, gehört nach Recherchen des Philosophen Michel Eltchaninoff die Ideologie der Eugenik. Dies wirft ein Schlaglicht auf Putins Besessenheit mit einer vermeintlichen Höherwertigkeit der Gene des eigenen Volkes. In Deutschland wurde die Eugenik unter der vom Begründer Francis Galton autorisierten deutschen Bezeichnung „Rassenhygiene“ popularisiert und von den Nationalsozialisten auf die Spitze getrieben. Es ist frappierend, dass es vor einigen Jahren nicht nur in den USA, Deutschland (siehe Sarrazin-Debatte) und anderen westlichen Ländern zu Ansätzen eines Revivals der Eugenik-Ideologie kam, sondern dass diese Welle auch Russland erreichte und gerade dort bedeutenden Einfluss entfaltete. Darin zeigt sich, wie wichtig auch die „weichen“ Faktoren sind, welche Rolle die geistige Auseinandersetzung über Grenzen hinweg zu spielen hat.

 

  1. Monika: A propos Militärhistoriker – hat Prof. Neitzel dir eigentlich jemals geantwortet?

Heide: Leider nicht. In einem Gespräch bei Phoenix hatte er gesagt, dass die Analysten vor dem Überfall auf die Ukraine annahmen, Putin werde diesen Krieg nicht führen. Denn er müsse davon ausgehen, ihn (auch im Falle eines militärischen Erfolgs) politisch-wirtschaftlich zu verlieren. Es sei ein großes Fragezeichen, wie Putin eine pro-russische Regierung in der Ukraine installieren wolle, wenn die Ukrainer ihn hassen. Deshalb hatte ich ihn gefragt, ob nicht gerade in einer solchen Konstellation passiver Widerstand, international u.a. mit Sanktionen unterstützt, grundsätzlich als Alternative zu bewaffnetem Widerstand einerseits und militärisch-politischer Kapitulation andererseits in Betracht kommen kann. Ich wollte wissen, ob diese Form des Widerstands in militärische Analyse und Theorie in irgendeiner Form eingeht. In sozialen Medien stelle ich fest, dass es zu Formen des gewaltfreien, passiven Widerstands sehr viel Unwissen oder konfuses Halbwissen gibt. Das halte ich für ein großes Defizit.

 

  1. Monika: Lob und Kritik an der deutschen Hilfe in der Ukraine?

Heide: Großes Lob für die unbegrenzte Aufnahme geflüchteter Menschen aus der Ukraine ohne Wenn und Aber. Was die militärische Unterstützung für die Ukraine betrifft, so finde ich die Einordnung des deutschen Beitrags in eine mit den anderen, immerhin rd. 20 unterstützenden Ländern abgestimmte Gesamtstrategie und eine Aufgabenteilung wichtig und richtig. Ich würde gern noch viel mehr koordiniertes und aufgabenteiliges Vorgehen sehen – natürlich nach Maßgabe der Ukraine, aber mit eigenem Augenmaß für die damit übernommene Verantwortung gegenüber allen Beteiligten und Abschätzung der Wirkungen. Wir haben eine Mitverantwortung dafür, mit unserer Unterstützung zur Erhaltung von Leben beizutragen und nicht etwa ein selbstmörderisches Heldentum zu befeuern. Aus den Medien kann man den Eindruck gewinnen, es ginge darum, wer sich am beliebtesten macht durch Lieferung von möglichst viel und möglichst „schweren“ Waffen – das halte ich für zu kurz gesprungen.

Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll und durchaus vermittelbar, wenn wir uns innerhalb der Aufgabenverteilung konsequent und zuverlässig auf vernachlässigte gewaltarme Aspekte konzentrieren würden. Zum Beispiel fehlt es an Lebensmitteln, Wasserversorgung und medizinischer Versorgung von Zivilbevölkerung und Soldaten. In einem desolaten Zustand scheinen die Möglichkeiten zur Unterbringung russischer Kriegsgefangener zu sein. Ganz im Vordergrund der Berichterstattung und Aufmerksamkeit bezüglich der russischen Soldaten steht deren Dezimierung durch Töten mit allen Mitteln, wobei auch paramilitärische Aktionen aus der Bevölkerung zum Einsatz kommen. Dies kann aber nach internationaler Erfahrung zu einer Dynamik der Brutalisierung der Angreifer beitragen, auch wenn die Angegriffenen das Recht haben, gegen tödliche Gewalt auch tödliche Gewalt einzusetzen und die gesamte Bevölkerung zur Unterstützung des Kampfes aufzurufen. Die Möglichkeit, in großem Umfang Kriegsgefangene zu nehmen, könnte einen positiven Einfluss auf die Gesamtdynamik haben. Hier könnte Deutschland die Ukraine zum Beispiel über das Internationale Rote Kreuz und die Vereinten Nationen unterstützen.

 

  1. Monika: Wie sollte Deutschland seine Rolle bei der NATO künftig ausgestalten?

Heide: Das rein militärisch verstandene Sicherheitskonzept um nicht-militärische Perspektiven aus der Friedens- und Konfliktforschung erweitern. Den Einfluss des Rüstungslobbyismus begrenzen. Zivile Friedensarbeit einbeziehen. Die Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen stärken; der internationalen Gerichtsbarkeit Zähne geben. Wirtschaftliche und kulturelle Ansätze der Friedensförderung und Kriegsprävention konzeptionell weiterentwickeln und umsetzen.

Schwerter zu Pflugscharen schmieden – mit langem Atem.