Im Mai fand in der Leucorea der Wittenberger Dialog zu Politischer Bildung statt. Unter der Überschrift „Lehrkräfte gegen Rechts – Adolf Reichwein und die politische Bildungsarbeit“ hat der Vorsitzende der SPD Sachsen-Anhalt und mein Landtagskollege Dr. Andreas Schmidt einen spannenden und inspirierenden Vortrag über den Reformpädagogen und Widerstandskämpfer Adolf Reichwein gehalten. Den Redetext möchte ich an dieser Stelle gerne teilen:
Adolf Reichwein – In der Entscheidung gibt es keine Umwege
Ein trister, dunkler Raum mit nackten, weiß getünchten Wänden und einem glatten grauen Betonfußboden. Quer durch den Raum eine große, schwere Eisenschiene mit Haken, links an einer Wand eine gekachelte Fläche. Der Betonboden hat ein leichtes Gefälle hin zu einem Ablauf.
Es ist immer kalt in diesem Raum in der Gedenkstätte Plötzensee, dem Hinrichtungsraum des damaligen Gefängnisses in Berlin und jedem und jeder, der oder die diesen Raum betritt, wird kalt.
Hier endete am 20. Oktober 1944 das Leben von Adolf Reichwein. Lehrer, Reformpädagoge, „fliegender Professor“, Demokrat, Mitglied des Widerstands um dem 20. Juli 1944 und schließlich Opfer der Nationalsozialisten.
An einem der Haken der beschriebenen Eisenschiene wurde er an diesem Tag mit anderen sogenannten Verschwörern des 20. Juli gehängt. Das Gefängnis Plötzensee verfügte auch über eine Guillotine, aber die Nazis sahen die Hinrichtung durch Erhängen als besonders ehrlos an. Die Erhängung in diesem Raum war Mord unter möglichst würdelosen Umständen, eine Art der Tötung, die die Opfer entehren sollte.
Wir wissen nicht ganz genau, mit welchen Gefühlen Adolf Reichwein den Hinrichtungsraum betrat. Aus seinem letzten Brief wissen wir, dass er entschlossen, mutig und gerade in den Tod ging und dass er fest an ein besseres Deutschland glaubte. Das Deutschland für das er sein Leben riskiert hatte und für das er es schließlich gab.
Dieses Leben begann am 3. Oktober 1898 im hessischen Kurort Ems an der Lahn im Haus eines Lehrers und Organisten. Reichwein legte das Abitur bereits aus der Kaserne heraus ab. Er hatte sich 1917 als Kriegsfreiwilliger gemeldet, so wie viele junge Leute aus den Familien aus dem neuen Mittelstand des Kaiserreichs.
So wie viele seiner Generation prägte der Große Krieg ihn für das ganze Leben, für ihn eine schwere Verwundung eingeschlossen.
Aus dem Lazarett entlassen, studierte Reichwein Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Philosophie. Da war er schon aus dem Traum des nationalkonservativ-kleinbürgerlichen Untertanenlebens aufgewacht.
Er wollte die Welt entdecken und er wollte seine verändern. Die Erwachsenenbildung wurde zu seinem Ziel und die wollte er grundlegend reformieren.
Auf diesem Weg war Reichwein nicht allein. Eine ganze Generation von jungen Pädagogen, zum Teil noch in den Lehrerseminaren der alten Zeit ausgebildet, verändert aus dem Krieg zurückgekommen und auf der Suche nach neuen Wegen im Bildungswesen begann sich in den zwanziger Jahren mit reformpädagogischen Ideen zu beschäftigen und die bereits entwickelten Ansätze in die Schulpraxis und die Lehrerbildung zu überführen. Der Name Peter Petersen und seine Versuchsschule in Jena, die Jena-Plan-Schule, stehen stellvertretend für viele Prominente und Namenlose dieser Bewegung.
Möglich wurde das alles, weil im neuen Staat Leute in der Bildung das Sagen hatten, die mit der reformpädagogischen Bewegung sympathisierten. Der Orientalist Carl Heinrich Becker war so einer.
Er hatte schon im Kaiserreich für eine Reform seiner Wissenschaft als Hochschulfach gestritten. Er war 1913 von den Modernisierern im preußischen Kultusministerium als Referent geholt worden. Nach der Novemberrevolution wurde er Staatssekretär unter einem nun sozialdemokratischen Kultusminister und 1925 selbst Kultusminister. Becker wiederum holte junge Reformpädagogen ins Ministerium, darunter auch Adolf Reichwein als persönlichen Referenten.
Der hatte nach Studium und Promotion in Jena eine Volkshochschule und ein Arbeiterbildungsheim gegründet. Zugleich zog es ihn in die Ferne. Forschungsreisen nach Nordamerika und Mexiko, ein Fußmarsch durch Lappland, eine Reise als Offizier auf einem amerikanischen Handelsschiff nach Japan, China und den Philippinen erweiterten seinen Horizont und gaben ihm das Image des verwegenen Abenteurers.
Über diese Reisen schrieb er Bücher, deren Einnahmen er in einem Flugzeug anlegte. Die Klemm L25 war ein kleines Sportflugzeug, ein offener Zweisitzer mit ganzen 50 PS, aber ganz neu auf dem Markt, schick und schnittig. Wer sich ein Bild von diesem Flugzeug anschaut, bekommt eine Ahnung davon, was der „fliegende Professor“ als der bald tituliert wurde, für ein Mensch war.
Reichwein beeindruckte die Menschen, die ihm begegneten, nicht nur weil klug war, sondern weil er verkörperte und lebte, was er glaubte und lehrte. Reichwein war ein echter Typ, ein Mann, dem Leute folgten, der Autorität ausstrahlte, ohne dafür hierarchische Distanz zu brauchen.
Die Stelle im Kultusministerium blieb Intermezzo, weil Carl Heinrich Becker Anfang 1930 aus dem preußischen Kultusministerium ausscheiden musste. Reichwein hat den Wechsel wahrscheinlich auch als Chance gesehen.
Er bekam die Möglichkeit, an eine der Pflanzschulen für die neue Welt der Bildung zu gehen für die er seit Jahren gearbeitet hatte.
Anders als Lehrer höherer Schulen wurden Volksschullehrer im Zweiten Kaiserreich nicht als Hochschulen oder akademischen Institutionen mit Abitur als Zugangsvoraussetzung ausgebildet, sondern an Lehrerseminaren bzw. Präparandenanstalten. Auch die Lehrerbildner dort hatten in der Regel keine akademische Ausbildung. In vielen Fällen saßen auf beiden Seiten ehemalige Unteroffiziere. Die Volksschullehrer wurden anders als die an höheren Schulen nicht von den Ländern angestellt, sondern von den Gemeinden und waren oft sprichwörtlich schlecht bezahlt.
In Preußen und anderen deutschen Ländern wurde das ab 1926 anders.
In neugegründeten Pädagogischen Akademien wurde die Volksschullehrerausbildung auf eine neue Basis gestellt. Das war nicht nur ein heute kaum noch nachvollziehbar riesiger Schritt für das Niveau der Schulen. Es bot auch den jungen reformpädagogisch orientierten Kräften im System die Chance die innere Verfasstheit der Lehrerbildung an sich und in der Folge Verständnis, Pädagogik und Fachunterricht an der Volksschule zu revolutionieren.
Becker war es, der diese Pädagogischen Akademien durchsetzte. 1930 war das Jahr, an dem nach den ersten Versuchen ab 1926 eine ganze Reihe von Pädagogische Akademien gegründet wurden.
Eine der neuen Akademien wurde in Halle eingerichtet. Reichwein ging, oder besser flog, dorthin. Er wurde Professor für Geschichte und für ein Fach, das es noch gar nicht gab: Gegenwarts- oder Staatsbürgerkunde.
Er machte sich sofort daran, dieses neue Fach und ebenso seine Vorstellung vom Lehrersein konzeptionell auszufüllen und in die praktische Ausbildung umzusetzen.
Reichwein selbst beschrieb seinen Ansatz 1931 so:
„Wir wissen heute, dass die Aufgabe des Volkslehrers, nicht nur in der Stadt, sondern grade und vor allem in den Dörfern, volkserzieherisch im vollen Sinn des Worts ist. Die geistige Plastizität unseres Volkes, ohne die wir in der sittlichen, seelischen und intellektuellen Beanspruchung der nächsten Jahrzehnte nicht begegnen können, wir in entscheidendem Maß von dem Dasein eines strukturbildenden Lehrerstands abhängen, der im Stande ist, verständnisvoll zu führen, nicht nur in dem erzieherischen Schicksal des einzelnen (Kindes und Erwachsenen) sondern auch in dem sozialen Schicksal der Gruppe, der Gemeinde, der Familie.
So durchdringen sich für den Lehrer pädagogisches und politisches Schicksal. Von dem künftigen Lehrer erwartet man also gründliches Wissen und seelischen Spürsinn, Wissen um die elementaren Dinge, Spürsinn, Takt, für den persönlichen, richtigen, aktuellen Einsatz.
Die Führungsaufgabe der Lehrerschaft im ganzen Volk, das sich sittlich, geistig und beruflich, sozial neu zu ordnen hat, um eine neue Existenzform zu finden, in der es leben kann, wird von den Lehrern nur übernommen werden können, wenn sie zur Führung erzogen sind; zur Führung nicht aus Privileg sondern aus Können.“ […]
„Diejenigen, die das Seminar in irgendeiner Form wiederhaben wollen, die Ausbildung von „Unteroffizieren“ für unsere Kinderschule, übersehen, dass ein Volk im Stadium entfalteter Verkehrswirtschaft und weit differenzierter Produktion nicht mehr autoritär regiert werden kann, sondern nur noch auf dem Grund autonomer Verantwortung jedes einzelnen… Wirtschaftlicher Zwang, politisches Können, erzieherisches Wollen sind parallel geschaltet; zwar trägt die Erziehung ihre eigene Verantwortung in sich, aber sie kann nur zur Volkserziehung werden, wenn sie in den Prozess sozialer Gestaltung einmündet.“[1]
Reichwein wollte selbstständig denkende Lehrer für Schulen, die keine Untertanenfabriken mehr sein sollten. Er wollte keine Stoffverkünder und Normierer. Er wollte Lehrer als Vorbilder, fachlich und menschlich. Seine Art der Lehrerbildung verband entsprechend Unterricht, Anschauung und eigene Tätigkeit. Er ging mit seinen Studenten auf Exkursionen in Industrie und Landwirtschaft, ließ sie in Schulen hospitieren und veranstaltete mehrwöchige Landschulpraktika in Form von Zeltlagern.
Darüber hinaus organisierte er freiwillige Sommer- und Winterlager an der Ostsee bzw. im Riesengebirge und Wanderungen im Harz.
Als Hospitationsschulen wählte er, neben den offiziellen Partnerschulen der Akademie, die beiden Freien Schulen in Halle. Dort lernte mit deren Direktoren Hugo Görsch und Edwin Bernhardt zwei Gleichgesinnte kennen, die Mitglieder der SPD waren.
Sie brachten ihn in Kontakt mit den sozialdemokratischen Kultur- und Sportvereinen, mit der Arbeiterwohlfahrt, den Kinderfreunden, den Naturfreunden und der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer. Aus diesen Kontakten ergab sich Zusammenarbeit.
So fuhren Studenten der Akademie 1930 als Betreuer mit halleschen Kindern in die von den Kinderfreunden veranstaltete Kinderrepublik Lahntal und erwarben so Praktikumsscheine für die Akademie.
Reichwein hatte schon in seiner Thüringer Zeit mit der Sozialdemokratie sympathisiert. Im Oktober 1930 trat er in die SPD ein. Was dieser Schritt für einen bedeutete, der weder vom Herkommen, noch von der eigenen beruflichen Stellung etwas mit Arbeitern und gewerblicher Arbeit oder Gewerkschaften zu tun hatte, kann man heute kaum noch ermessen.
Die SPD der Weimarer Zeit war noch nicht die akademische Lehrerpartei, zu der sie sich 50 Jahre später in der alten Bundesrepublik entwickeln sollte. In den Distrikten und Ortsverbänden versammelten sich überwiegend Arbeiter, Studierte waren die Ausnahme und die kamen oft aus Arbeiterfamilien.
Wie viel seine Bekanntschaft mit Görsch und Bernhardt zu dieser Entscheidung beitrug, ist nicht bekannt. Berührungsängste mit den Sozialdemokraten hatte er jedenfalls nicht. Hugo Görschs Kinder wussten von privaten Besuchen Reichweins bei Familie Görsch zu berichten.
Reichwein war kein weltferner Wissenschaftler und das war, wie erwähnt, auch sein Konzept von Lehrerbildung nicht. Er wusste darüber hinaus ganz genau und aus eigenem Erleben, dass es von politischen Entscheidungen abhing, wie weit seine Vorstellungen von Schule und Lehrerbildung sich umsetzen ließen. Als die Pädagogische Akademie in Halle im Mai 1930 eröffnete, schlug die Weltwirtschaftskrise bereits auf die öffentlichen Haushalte durch und die Stimmung im Land war mit den Reichstagswahlen 1929 schon gekippt. Die ersten Pädagogischen Akademien sollten 1931 und 1932 schon wieder schließen. Reichwein hat sich mit seinem Eintritt in die SPD ganz sicher in den Kampf um seine Vorstellung von Bildungspolitik begeben.
Vor allem aber, so hat den Beitritt selbst begründet, ging es ihm um die Republik und die Demokratie. Vor dem Hintergrund des Aufstiegs der NSDAP und der Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie durch die Präsidialkabinette ohne Mehrheit, fand er, müsse man sich bekennen. Reichwein wollte sich bekennen.
Die Quittung kam im Frühjahr 1933. Von der Hochzeitreise mit seiner zweiten Frau Rosemarie aus Italien zurückkehrt, fanden beide im April 1933 zu Hause ihre Entlassungsurkunden vor.
Am 5. Mai 1933 schrieb Adolf Reichwein noch aus Halle an seinen Freund Robert Curtius: „Das letzte Semester hier war sehr anstrengend, ich kam kaum zu persönlichen Dingen. Die kargen Ferien, d.h. den April habe ich benutzt, um mit meiner Frau – wir haben am 2. April geheiratet – nach Italien zu reisen. Es war etwas von Flucht dabei, und es hat köstlich wohl getan.
Rom war wieder überwältigend für mich, wie immer. Nun bin ich beurlaubt und werde wohl demnächst – ohne Pension übrigens – entlassen. Es ist schon ein merkwürdiges Schicksal bei solcher Leidenschaft für Wirken an der Jugend, an Volk und Nation. Aber der totale Staat macht ganze Arbeit. Wir sind bei alledem aber beide heiter und gelassen. Ich spüre mächtiger denn je, was sittliche Gewißheit und gutes Gewissen einem bedeuten können, wieviel Kraft einem von da kommen kann. Mein Koordinatensystem ist unerschüttert, mein Lieber; es tut wohl, einige Menschen zu wissen, die noch in Ordnung sind.“[2]
Noch im Mai löste das frischgebackene Paar die neu eingerichtete Wohnung in Halle auf und zog zu Adolf Reichweins Schwiegereltern nach Wannsee.
Seine Kollegin Elisabeth Blochmann, nach 1945 eine der prägenden Figuren der deutschen Erziehungswissenschaft und erste Pädagogik-Professorin in Deutschland zog 1950 Reichweins hallesche Bilanz so:
„Es war bezeichnend, dass sein Fach die Gegenwartskunde war, die er sich recht eigentlich erschuf. Keiner von uns anderen hat einen ebenso starken und einen so guten Einfluss auf die Studenten der Pädagogischen Akademie Halle gehabt.
Ich glaube darüber bestand im Kollegium kein Zweifel. Seiner Wachheit, seinem tapferen Realismus, seiner Wahrhaftigkeit, die sich selbst nichts vormachte, und die auch bösen Dingen frei ins Auge sehen konnte, verdankten wir es, dass in dem kritischen Winter 1932–33, unserem letzten Semester, nicht ein unangenehmer Zwischenfall sich ereignete.
Gewiss, auch bei uns gab es eine nationalsozialistische Studentengruppe, aber sie umfasste bis zuletzt nicht mehr als ein Viertel der Studenten – schon das ungewöhnlich günstig damals – und was wichtiger war, sie behielt den anständigen Ton freier Diskussion bei, der in der Akademie herrschte, und für den Reichwein wesentlich verantwortlich war.
Er war der geborene Führer der Jugend, weil er jung und reif zugleich war. Er war der Typus des Erziehers, den man in jenen Jahren mehr als je gebraucht hätte, weil er politisch sah und doch den Menschen nichts vergass, weil er die Welt im Grossen kannte und die internationalen Spannungen verstand und sich doch der nahen Aufgabe der Erziehung deutscher Erzieher mit Leib und Seele widmete.“[3]
Eine Emigration kam für Reichweins nicht in Frage. Nicht vor allem, weil sie anders als zum Beispiel die Jüdin Elisabeth Blochmann, nicht direkt bedroht waren. Auch nicht vor allem, weil sie eventuell wie die meisten Hitlergegner mit einem schnellen Ende des neuen Regimes rechneten. Reichwein war zutiefst in Deutschland verwurzelt. Die Nation als kulturelle Entität war das Fundament seines Denkens. Wegzugehen konnte er sich nicht vorstellen und er glaubte, weiter wirken zu können.
Im Oktober 1933 schrieb er an eine Freundin: „Mit der Grundidee der Nationalsozialistischen Bewegung befand und befinde ich mich also nicht in Konflikt. Ich versuche also für meine alte Idee in neuen Verhältnissen zu leben und zu wirken, brauche mich in nichts wesentlichem zu ändern und behalte mein grades gesundes Rückgrat.“[4]
Das war Pfeifen im Wald. Reichwein wollte das glauben. Er wusste genau, dass seine Vorstellung von Erziehung und Bildung sich mit dem Bild der Nazis von der Jugend nicht vertrug. Aber für eine Nische, glaubte er, würde es reichen.
Er sollte in den folgenden Jahren erkennen, dass er sich hier Illusionen gemacht hatte. Vermutlich auch Illusionen über die Dauer von Hitlers Herrschaft. Aber zunächst fand er seine Nische als Leiter einer einklassigen Volksschule auf dem Land im Barnim im Dorf Tiefensee.
Dort setzte er praktisch fort, was er als Lehrerbildner begonnen hatte. Handlungsorientierter Unterricht mit Anschauung, Exkursion, Projektarbeit und nicht zuletzt einem Schulgarten. Eine kleine Revolution an einer kleinen Dorfschule.
Zugleich hat Reichwein erkannt, dass der Glaube, aus der Nische heraus von innen auf das System einwirken zu können, ein Irrglaube war.
Diese Erkenntnis war es, die ihn bewog, sich am Staatlichen Museum für Volkskunde in Berlin zu bewerben. Er hat das neue Arbeitsfeld dort mit der ihm eigenen Energie neu ausgefüllt. Aber vor allem ging es ihm darum, nach Berlin zu kommen und dort in Kontakt Gegnern des Regimes zu kommen. Alten Freunden und neuen Mitstreitern.
Alte Freunde fand Reichwein in Carlo Mierendorff und Theodor Haubach. Mierendorff hatte zu den 94 Reichstagsabgeordneten gehört, die am 23. März 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatten. Er hatte dafür mit fünf Jahren KZ-Haft bezahlt. Haubach hatte nach der Machtergreifung eine Widerstandsorganisation ehemaliger Mitglieder des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold aufgebaut und war von 1934 bis 1936 in Haft gewesen.
Neue Mitstreiter fand er im Kreisauer Kreis. Spätestens Ende 1939 lernte er Helmut James Graf von Moltke kennen. Als Moltke im Sommer 1940 begann den Kreis, aus dem der 20. Juli hervorgehen sollte, zusammenzubringen, war Reichwein von Beginn an dabei. Er war es, der Julius Leber in den Kreisauer Kreis einführte.
Reichwein suchte aktiv den Weg in den Widerstand. Er hatte sich klargemacht, dass dieses Regime enden müsse, wenn sein geliebtes Land leben solle. Und er hatte sich entschieden. „In der Entscheidung gibt es keine Umwege.“ So hat er es geschrieben und so hat er seit 1944 gelebt.
Die Männer und Frauen des 20. Juli sahen ihn als Kultusminister in ihrer Regierung vor. Wir wissen, dass es dazu nicht kam. Am 4. Juli wurde Reichwein verhaftet. Die Geschichte seiner Verhaftung will ich hier nicht erzählen. Sie ist eine eigene, bedrückende. Aber für das, wofür Reichwein steht, tut sie nichts zur Sache.
Er hat das Risiko gekannt. Er hat es gesucht, denn er hielt es für unumgänglich, etwas gegen die Nazis zu tun und er hielt es für unmöglich, sich selbst dabei herauszuhalten. Reichweins Entschiedenheit wird in den Augen dessen, der heute auf ihn schaut noch größer, wenn dieser Betrachter sieht, dass Reichwein die Einsamkeit dieser Entschiedenheit sehr wohl gespürt hat, dass er nicht sicher war,
dass seine Sache siegen würde. Im Frühjahr 1944 schrieb er: „„Sehr zaghaft meldet sich der Frühling. Als ob er scheu hätte, auf diese Erde zurückzukehren. Unter eine Menschheit, die scheinbar so geringe Anstalten zur Selbsterneuerung macht. Wie selten begegnen wir Menschen, die aus dieser schweren Prüfungszeit, die doch auch eine Gelegenheit zur Um- und Einkehr ist, die persönlichen Folgerungen ziehen. Die Masse bleibt bequem bei ihren billigen Egoismen. Eine schaurige Erfahrung […] wo leuchten die Osterkerzen wirklich in die Herzen, daß den Menschen selbst vor dem, was da drinnen ist an Dumm- und Dumpfheit, Engigkeit, Kleinmut und hartem Egoismus, anfängt ein wenig bange zu werden?“.[5]
Es gibt ein Bild von ihm vor dem Volksgerichtshof. Ein Mann, dessen Sakko schlottert, offenbar, weil er in den Wochen der Haft abgemagert ist. Er steht vor Richtertisch.
Allein, umgeben von sitzenden Staatsanwälten, Polizisten und Gerichtsdienern. Er steht gerade, sein Gesicht drückt Gefasstheit aus und Ernst.
Die Prozesse vor dem Volksgerichtshof waren Inszenierungen, die die Angeklagten demütigen und kleinmachen und in den Augen des Publikums verfemen sollten. Adolf Reichwein haben sie nicht kleingekriegt.
„Diese drei Monate sind für mich trotz aller Qual auch von großer innerer Bedeutung gewesen; sie haben vieles klären und hoffentlich auch läutern helfen, was man gern in seiner letzten Stunde geklärt und geläutert hat.“, schrieb er seiner Frau in der Stunde zwischen Prozess und Urteil und Hinrichtung am 20. Oktober.
Adolf Reichwein ist nur äußerlich an seinen Gegnern gescheitert. Moralisch hat er sie überwunden. Aber dieser Sieg muss von den Nachkommenden immer neu verdient werden. Heute mehr als vielleicht je in den letzten 79 Jahren. Adolf Reichwein und seine Entscheidung ohne Umwege entschuldigen und entschulden die Deutschen seiner Zeit nicht, im Gegenteil. Sie werfen ein deutliches Licht auf Größe der Schuld, die die Zeitgenossen auf sich geladen haben. Denn er hat gezeigt, was möglich war.
Wir haben heute keine Schuld, aber eine Verantwortung. Daraus kann Schuld werden, wenn wir nicht die Augen für die Vergangenheit offen halten und die Konsequenzen aus diesem Bild für unsere Zeit ziehen.
[1] Reichwein, Adolf, Pädagogische Akademieen – Gefahr im Verzug, in: Sozialistische Monatshefte, hrsg. von Josef Bloch, H. vom 12.10.1931, S. 988f.
[2] Zit. nach Wenzel, Hartmut, Adolf Reichwein in Halle und die Lehrerbildung, in: Adolf Reichwein in Halle und die Lehrerbildung. Von der Pädagogischen Akademie zur Pädagogischen Fakultät, hrsg. von Wolfgang Höffken, Magdeburg 2020, S. 61.
[3] Zit. nach Wenzel, Hartmut, Adolf Reichwein in Halle und die Lehrerbildung, in: Adolf Reichwein in Halle und die Lehrerbildung. Von der Pädagogischen Akademie zur Pädagogischen Fakultät, hrsg. von Wolfgang Höffken, Magdeburg 2020, S. 62.
[5] Zit. nach Steinbach, Peter, Für die Selbsterneuerung der Menschheit. Zum einhundertsten Geburtstag des sozialdemokratischen Widerstandskämpfers Adolf Reichwein, https://library.fes.de/fulltext/historiker/00254016.htm