Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine: Desinformation wirksam bekämpfen – aber wie?

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„Mache die Dinge so einfach wie möglich – aber nicht einfacher.“ – Albert Einstein

 

Aggressive Desinformation ist Teil der Strategie Putins um die völkerrechtswidrige Invasion in die Ukraine und die dort begangenen Verbrechen der Invasoren. In der aktuellen Kriegssituation liegt es nahe, dass völlig überzogene ebenso wie gänzlich unzutreffende Behauptungen der russischen Seite nur mit kategorischer Zurückweisung abgewehrt werden. In der gesamten Menschheitsgeschichte war Krieg noch nie eine Zeit für feine Unterscheidungen.

Es gibt aber auch eine in der Menschheitsgeschichte neue Situation: Die grenzübergreifende Beeinflussung von Meinungen und die Tendenz, in „Meinungsblasen“ abzutauchen, führt zu einer gefährlichen Polarisierung auch innerhalb demokratischer Länder. Während der Corona-Pandemie haben wir erlebt, wie im Kern völlig richtige, aber im Einzelnen z.T. übermäßig vereinfachende Bekämpfung von Desinformation zuweilen das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung erreichte. Deshalb – und auch, weil in einer Demokratie die Information eben Information und nicht Kriegswaffe ist, auch nicht in der Bekämpfung feindlicher Desinformation – halte ich es für wichtig, bei aller Vereinfachung auch differenziertere Information in die Bekämpfung der Desinformation einzubeziehen. Die nur wenig debattierte Erstellung von Listen angeblicher Freunde von Feinden (auf einer solchen erschien bekanntlich u.a. Rolf Mützenich) verstärkt meinen Eindruck von einer übergroßen Schlichtheit mancher Strategien.

Die russische Desinformationsstrategie kann nicht durch schlichte Umkehrung – vor alles nur das umgekehrte Vorzeichen setzen – wirksam bekämpft werden. Ganz klar auf der Seite der Ukraine zu stehen ist nicht gleichzusetzen mit der Polarisierung jeglicher Information in „für“ oder „gegen“ Ukraine. Solche Polarisierung stimuliert insgesamt gesehen Leichtgläubigkeit und Verführbarkeit, meinen Wissenschaftler. Für stabile und belastbare Einstellungen ist die aktive, eigene und auf hinreichend umfassender Information beruhende Auseinandersetzung wichtig.

Im Folgenden einige Beispiele für russische Desinformation, für deren schlagkräftiges Zurückweisen (auf Webseiten zur Bekämpfung der Desinformation) und differenzierte Information für weitergehend Interessierte.

 

Beispiel 1:  Angebliche Gräueltaten der Ukraine gegen die eigene Bevölkerung im Donbass

Schlagkräftiges Zurückweisen:

Russische Behauptungen über angebliche Gräueltaten der Ukraine gegen die eigene Bevölkerung im Donbass entbehren jeglicher Grundlage, wie die Berichte der Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) belegen.

Differenzierte Information:

„Mitglieder des Ajdar-Freiwilligenbataillons, das im Norden der Region Luhansk tätig ist, waren an weit verbreiteten Vergehen beteiligt, darunter Entführungen, rechtswidrige Festnahmen, Misshandlungen, Diebstählen, Erpressungen und möglicherweise Hinrichtungen. […] Unsere Erkenntnisse deuten darauf hin, dass, während sie formal unter dem Kommando der ukrainischen Streitkräfte in der Region operieren, Mitglieder des Ajdar-Bataillons praktisch ohne Aufsicht oder Kontrolle agieren, und die lokale Polizei entweder nicht bereit, oder dazu in der Lage ist, die Menschenrechtverletzungen zu ahnden. Einige der von Ajdar-Mitgliedern begangenen Menschenrechtsverletzungen stellen Kriegsverbrechen dar, für die sowohl die Täter als auch möglicherweise die Kommandanten, nach nationalem und internationalem Recht die Verantwortung tragen würden. […] Während das Ajdar-Bataillon landesweit von vielen als engagierte Kampfeinheit gelobt wird, hat es sich vor Ort einen Ruf für brutale Repression, Raub, Misshandlungen und Erpressungen erworben.“
– Quelle: Amnesty International, zitiert nach Bundeszentrale für politische Bildung (BPB)

… mehr von der Art, z.B. im Zusammenhang mit dem unaufgeklärten Verbrennen von 42 Menschen im Gewerkschaftshaus von Odessa (z.B. Legal Tribune)

„Das Klima der Straflosigkeit, das solche Angriffe befördert, besteht unverändert.“ (Amnesty International, 2019)

Textauszüge der UN und OSZE-Berichte sollten in der differenzierten Version zitiert werden; inkl. Links.

 

Beispiel 2:  Darstellung der Ukraine als vermeintlichen Aggressor, Unrechtsstaat oder von einem neonazistischen Regime kontrolliert

Schlagkräftiges Zurückweisen:

Beispielsweise stellt die russische Regierung die Ukraine als vermeintlichen Aggressor oder Unrechtsstaat dar und behauptet, dass die Ukraine von einem neonazistischen Regime kontrolliert wird. Damit soll die Tatsache aus dem Fokus der Öffentlichkeit gedrängt werden, dass Russland einen demokratischen Staat mit einem Präsidenten jüdischer Herkunft völkerrechtswidrig angegriffen hat.

Differenzierte Information:

Auslöser insgesamt unzutreffender Neonazi-Assoziationen, die in der russischen Propaganda ausgeschlachtet werden, sind kleine Freiwilligenbataillone, die sich seit 2014 (der russischen Besetzung der Krim) gebildet haben und in die ukrainische Armee integriert wurden. Auffällig wurde insbesondere das Asow-Regiment, u.a. durch die Verwendung des „Wolfsangel“-Symbols.

Die Wolfsangel wurde in der Zeit des Nationalsozialismus von SS-Einheiten verwendet. Mit diesen (z.B. bei DSW beschriebenen) Entwicklungen einher ging auch eine neu inspirierte Verehrung für den historischen Unabhängigkeitskämpfer Stepan Bandera. „Die Rolle des Faschismus in Banderas Leben oder die Beteiligung der ukrainischen Nationalisten am Holocaust und anderen Arten von Verbrechen tauchen in diesem nationalen Narrativ nicht auf“ (Berliner Zeitung, 2022). „Dieses nationale Narrativ vertreten heute Botschafter Melnyk und auch viele andere Ukrainer.“ Der ehemalige Botschafter Melnyk ist mittlerweile zum stellvertretenden Außenminister aufgestiegen.

Einflüsse ultra-nationalistischer Strömungen werden in einem von der George Washington University veröffentlichten Arbeitspapier aus dem Jahr 2020 differenziert dargestellt. Demnach haben sowohl ukrainische Ultra-Nationalisten als auch geistige Beeinflusser von Putin, wie Alexander Dugin, enge Bezüge zum Revival der sog. „Konservativen Revolution“ (wie die AfD und ihr Thinktank „Institut für Staatspolitik“). In dem Zusammenhang wird auch Andrij Melnyk genannt.  Zudem werden Kontakte der ukrainischen mit schwedischen, finnischen und südafrikanischen völkischen Nationalisten beschrieben.  – Die Manifestationen dieses Gedankenguts, zu dem auch die Idee der „Rassenhygiene“ gehörte, in verschiedenen Ländern dürfen natürlich nicht gleichgestellt werden. Ihre weitaus schlimmsten Auswirkungen hat es in Russland entfaltet.

„Rechte Kämpferlandverschickung“: Mit Kampfsportevents, paramilitärischen Schießtrainings und NS-Black Metal will man Neonazis aus West- und Nordeuropa für sich gewinnen…. „Für jemanden, der mal wieder unter dem Hakenkreuz kämpfen will, ist Asow das Paradies.“ (DIE ZEIT, 2021)

Im Januar 2022, unmittelbar vor der Invasion, trat ein neuer, sehr rigider Spracherlass gegen die in der Ukraine viel gesprochene russische Sprache in Kraft „Getroffen werden aber auch ukrainische Medien, die auf Russisch Putin und dessen Ukrainepolitik kritisieren. Als eine Art russische Gegenöffentlichkeit hätten diese eigentlich Schutz verdient, klagt der in London lebende russische Journalist Oleg Kaschin in der FAZ. Stattdessen sei die Ukraine nun das erste Land, das Pressepublikationen in einer konkreten Sprache faktisch verbiete.“  (Bericht auf dem Übersetzerportal uepo.de)

Als schwerwiegend angesehene Monita, welche bisher die angestrebte Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union verzögerten, gehörte neben Korruption auch die Rechtsstaatlichkeit; auch Verbesserungsbedarf im Umgang mit nationalen Minderheiten wurde gesehen. Eine Beschleunigung des Aufnahmeverfahrens ist nun vorgesehen.

„Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes“, hieß es 2021 zu einem Sonderbericht (berichtet z.B. im Tagesspiegel).

 

Beispiel 3:  Angebliche Waffenprogramme in der Ukraine

Schlagkräftiges Zurückweisen:

Russland wirft der Ukraine zudem vor, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln – auch mittels angeblicher Unterstützung durch westliche Staaten. Es gibt jedoch keine nuklearen, chemischen oder biologischen Waffenprogramme der Ukraine. Es existieren und existierten auch keine westlichen Forschungseinrichtungen zur Entwicklung von nuklearen, chemischen oder biologischen Waffen in der Ukraine.

Differenzierte Information:

Die Behauptung, es gäbe Waffenprogramme oder Forschungseinrichtungen zur Entwicklung von Waffen, trifft nicht zu. Was es gibt, ist sogenannte „Dual-Use“ Forschung, und hier ist transparente Information wichtig.

Dass „Dual-Use“ Technologie nicht ganz belanglos ist, zeigen z.B. die Zollvorschriften: „Waren, die aufgrund ihrer Beschaffenheit oder besonderen Spezifikationen sowohl zivil als auch militärisch verwendet werden können, werden Dual-Use-Güter genannt. … Auch bei der Durchfuhr, der Beförderung nichtgemeinschaftlicher Güter mit doppeltem Verwendungszweck in und durch das Zollgebiet der Union zu einem Bestimmungsziel außerhalb der Union, können aufgrund verschiedener Rechtsvorschriften Beschränkungen, Genehmigungspflichten oder Verbote bestehen.“ (Aus zoll.de)

„Am 11. März hielt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) auf Antrag Russlands eine Dringlichkeitssitzung ab, bei der Moskaus Vorwürfe diskutiert wurden. Die Hohe Repräsentantin der VN für Abrüstungsfragen, Izimu Nakamitsu, erklärte, dass den Vereinten Nationen keine Biowaffenprogramme bekannt seien, und während der Sitzung wiesen die westlichen und andere Staaten die Vorwürfe einhellig zurück. … Das chinesische Außenministerium warf allerdings am 8. März Fragen dazu auf, welcher Art die Forschung in den 336 biologischen Anlagen sei, die verteilt über 30 Staaten mit dem US-Verteidigungsministerium kooperieren. …

Es gibt in der Ukraine biologische Forschungslabors, die aus US-amerikanischen und deutschen Regierungsmitteln unterstützt werden. In der Ukraine wird auch an gefährlichen Krankheitserregern geforscht. … Diverse gefährliche Erreger z.B. von Milzbrand, Tularämie oder dem Krim-Kongo-Fieber sind in der Ukraine endemisch, d.h. sie kommen natürlicherweise vor. Die Forschung an solchen Erregern ist daher wichtig für den öffentlichen Gesundheitsschutz … Solche Forschung weist daher für sich genommen nicht auf die Entwicklung biologischer Waffen hin. Dass in der Ukraine gefährliche Krankheitserreger bei Kriegsbeginn beseitigt wurden, damit sie nicht in russische Hände fallen, hat Russland als Zeichen illegaler Aktivitäten dargestellt. Allerdings wäre es vielmehr unverantwortlich gewesen, hätte die Ukraine solche Erreger an Ort und Stelle belassen und damit einen Kontrollverlust oder eine versehentliche Freisetzung im Zuge militärischer Angriffe in Kauf genommen.
In beiden Bereichen [biologische und biotechnologische Forschung] gibt es sogenannte Dual-Use-Forschungen, die legitime Zwecke verfolgen, die aber auch als illegitime Aktivitäten fehlinterpretiert werden können. Solche Forschungen könnten zudem teilweise für kriminelle, bioterroristische oder Waffenzwecke missbraucht werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist daher ein hohes Maß an Transparenz bei biologischen Forschungsaktivitäten wichtig …“ (Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik, IFSH, Hamburg)

Wurde „Dual-Use“ Technologie bei Zusammenarbeit mit der Ukraine schon einmal von deutschen Regierungsstellen thematisiert/ kommentiert? Wenn nicht, sollte dies in Betracht gezogen werden – im Sinne der Empfehlung des IFSH, hier ein hohes Maß an Transparenz walten zu lassen.

 

Beispiel 4:  Bedrohungsszenario bis hin zum Atomkrieg  

Schlagkräftiges Zurückweisen:

Ein Bedrohungsszenario soll Ängste in den jeweiligen Zielstaaten anfachen und deren politische Handlungsfähigkeit einschränken. Auch das Verbreiten des Narrativs einer möglichen atomaren Eskalation durch Russland gehört dazu. Derartige Drohungen verringern jedoch nicht die Entschlossenheit Deutschlands und seiner Partner in EU und NATO, dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine u.a. mit harten Sanktionen zu begegnen.

Differenzierte Information:

„Wie wahrscheinlich ist ein Atomkrieg tatsächlich? Letztlich kennt niemand die Antwort auf diese Frage … Vermutlich will Putin nur für Furcht und Vorsicht seitens des Westens sorgen. Doch sollte sich Putin im weiteren Verlauf des Ukraine-Kriegs in die Enge getrieben sehen, kann ein Atomschlag nicht völlig ausgeschlossen werden.“ (SRF 2022)

Auf dem Fliegerhorst Büchel im Kreis Cochem-Zell sollen 20 Atombomben vom Typ B61 lagern. Davon geht der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages aus. Die Atomwaffen sind Teil der sogenannten nuklearen Teilhabe der NATO und würden im Ernstfall auch von Bundeswehr-Flugzeugen abgeworfen. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die Angst zurück. Auch weil Russland seine Atomwaffen-Truppen in erhöhte Einsatzbereitschaft versetzt hat. Jetzt hat die Organisation Internationaler Ärzte gegen den Atomkrieg eine Protestwoche organisiert. … Anlass dafür sei die geplante Modernisierung der amerikanischen B61-Bomben, die lenkfähig und in ihrer Detonationskraft einstellbar werden sollen.“ (SWR 2022)

Abgesehen von der Entschlossenheit, sich von Drohungen nicht beeinflussen zu lassen – wichtig ist auch, welche Bemühungen es gibt, die Eskalation bis hin zu einem Atomkrieg zu vermeiden.

 

Beispiel 5:  Angebliche „Russophobie“

Schlagkräftiges Zurückweisen:

Russland behauptet, dass die Reaktion der Staatengemeinschaft auf den russischen Angriff auf die Ukraine durch vermeintliche „Russophobie“ motiviert sei. Auch behauptet die russische Regierung, dass die westlichen Gesellschaften insgesamt „russophob“ geworden und russisch-stämmige Menschen im Westen nicht mehr sicher seien. Die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland unterscheidet jedoch sehr klar zwischen der Abwehr des völkerrechtswidrigen Angriffs und pauschaler Verurteilung russischer Bürgerinnen und Bürger. Die Bundesregierung legt grundsätzlich großen Wert auf die Bekämpfung jeglicher Diskriminierung.

Differenzierte Information:

Die Reaktion der Staatengemeinschaft auf den russischen Angriff auf die Ukraine ist durch die eklatanten Völkerrechts- und Menschenrechtsbrüche des Überfalls motiviert. Generalisierte Russophobie infolge der Empörung darüber ist nicht die Regel, wenn auch in sozialen Medien und in der Zivilgesellschaft gelegentlich zu beobachten. Beobachtete Beispiele sind z.B. Schmierereien am sowjetischen Ehrenmal in Berlin Teltow („Tod allen Russen“), Mobbing im Kindergarten, der temporäre Aushang eines Restaurants, dass Gäste mit russischem Pass nicht bedient würden. (hoover.org u.v.a.m.)

Einiges Gewicht haben gegen alle Russen gerichtete Aussagen, mit denen sich der vormalige ukrainische Botschafter in Deutschland zitieren ließ, u.a. im Stern: „Russland ist ein Feindstaat für uns. Und alle Russen sind Feinde für die Ukraine, im Moment“. Angesichts des Krieges in der Ukraine könne es nicht darum gehen, „zwischen bösen Russen und guten Russen zu unterscheiden“. Und weiter: „Die Ukraine war, ist und wird wahrscheinlich für lange Zeit ein Feind der russischen Gesellschaft bleiben.“

Die Facebook-Entscheidung, Kommentare, die sich auf die russischen Invasoren beziehen, von den sonst geltenden Hate-Speech Regelungen auszunehmen, könnte sich u.U. auf Äußerungen gegen Russen insgesamt auswirken. Dazu gibt es bisher noch keine Auswertungen.